Praktische Solidarität statt Wegschauen: Die Initiative Push-Back Alarm Austria unterstützt mit einer Telefonhotline Geflüchtete an Österreichs Grenzen und macht Pushbacks öffentlich. Ein Gespräch mit der Aktivistin Klaudia Wieser.
Seit zwei Jahren unterstützt Push-Back Alarm Austria Menschen, die in Österreich Asyl beantragen möchten und von illegalen Zurückweisungen betroffen sind. Wie kam es zu dieser Initiative?
Bei der Open Border Konferenz in Wien 2020 haben wir – Aktivist:innen und Wissenschaftler:innen aus ganz Europa – eine bosnische Journalistin getroffen, Nidžara Ahmetašević, die schon seit Jahren zu illegalen Pushbacks arbeitet. Sie hat uns von Begegnungen mit Geflüchteten erzählt, die es zu Fuß bis nach Österreich geschafft haben und dann von der Polizei unrechtmäßig nach Slowenien und Kroatien, bzw. zurück nach Bosnien-Herzegowina gepusht wurden. Wir konnten das damals schwer glauben – und haben begonnen zu recherchieren.
Worauf seid ihr dabei gestoßen?
An der österreichischen Grenze wurde eine Gruppe von sieben Personen aus Marokko, darunter drei Minderjährige, zurückgewiesen. Wir konnten mit ihnen persönlich über ihren Pushback sprechen. Gemeinsam mit dem Menschenrechtsanwalt Clemens Lahner haben wir eine Maßnahmenbeschwerde gegen illegale Rückweisung eingereicht, die vor dem Landesverwaltungsgericht Steiermark Erfolg hatte.
Auch wenn Betroffene deshalb nicht wieder einreisen dürfen, war es ihnen wichtig, auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Denn: Es fängt mit einem Pushback an, aber es steckt ein System dahinter, das diese menschenunwürdige Praxis ermöglicht.
Klaudia Wieser ist Sozialwissenschaftlerin und Mitbegründerin der Initiative Push-Back Alarm Austria. Außerdem arbeitet sie bei der Dokumentations- und Beratungsstelle Islamfeindlichkeit und antimuslimischer Rassismus im Bereich Monitoring und Projektmanagement.
Und so kam die Idee, eine Hotline einzurichten?
Die Grundidee war: dokumentieren und intervenieren, und zwar ganz einfach mit einer Telefonhotline. Die Telefonnummer hat sich unter Betroffenen schnell herumgesprochen und wir waren von 24-Stunden-Hotlines wie Alarm Phone Sahara, Watch the Med Alarm Phone oder dem Alarm Phone von der Initiative Infokolpa in Slowenien inspiriert. Sie waren und sind unsere Vorbilder.
Mit der Helpline (+43 1 3451444) unterstützt Push-Back Alarm Austria Schutzsuchende unmittelbar nach dem Überqueren der Grenze in Österreich, dabei einen Asylantrag bei der Polizei zu stellen. Wie funktioniert das konkret?
Die Menschen rufen uns an und schicken uns ihre GPS-Daten, wenn sie in Österreich sind. Wir kontaktieren dann die nächstgelegene Polizeistation. Zudem versuchen wir mit den Menschen, die auf dem Weg und in enorm schwierigen Situationen sind, in Kontakt zu bleiben. Und wir dokumentieren Pushbacks, klären Betroffene über ihre Rechte auf und bringen Maßnahmenbeschwerden ein. Derzeit bekommen wir kaum Anrufe von Betroffenen während Pushbacks, das kann sich aber schnell wieder ändern. Jedoch sind wir immer mehr eine Anlaufstelle für Angehörige und Freunde von betroffenen Menschen geworden.
Inwiefern für Angehörige?
Familienmitglieder von Betroffenen rufen uns an, wenn sie den Kontakt zu ihren Angehörigen kurz vor oder nach der Grenze verloren haben. So war das bei einer Familie aus Algerien, mit der wir im Dezember 2021 in Kontakt traten. Es ist eine besonders tragische Geschichte, die wir daraufhin recherchierten: Vier Männer waren zu Fuß von der Slowakei aus nach Österreich unterwegs. Aus Angst, auf anderen Wegen auf die Polizei zu treffen, gingen sie entlang der Bahngleise. Zwei von ihnen wurden auf den Schienen in Hainburg von einem Zug erfasst. Die anderen zwei konnten noch von den Gleisen springen. Die Familie in Algerien bekam weder von der Botschaft noch von den Polizeibehörden hier Informationen darüber, was mit ihren Angehörigen passiert war. Es gab anfangs auch kaum Unterstützung, damit die Leichname rücküberstellt werden konnten. Hier mussten wir auf mehreren Ebenen intervenieren und waren die einzigen, die der Familie detaillierte Informationen gaben und den Angehörigen zur Seite standen.
Wie reagieren die Menschen in den Grenzregionen auf die Initiative?
Als der erste Fall vor Gericht gekommen ist, haben wir versucht, Kontakt mit den Anwohner:innen in der Südsteiermark aufzunehmen. Damals waren über 30 Polizist:innen in der Nähe der Gemeinde Halbenrain involviert. Die Betroffenen hatten den Polizeieinsatz als Menschenjagd beschrieben. Auch die Bäuer:innen der umliegenden Höfe sprachen uns gegenüber von einer übertriebenen Verfolgungsjagd. Es war spannend zu hören, dass die Bevölkerung sehr genau Bescheid weiß, was hier passiert, und großteils nicht damit einverstanden ist. Auch der Einsatz von Drohnen in der Region regt die Bewohner:innen auf und macht die Auswirkungen der Überwachungspolitik auf die Gesamtbevölkerung sichtbar.
Ohne die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen, werden Menschen nicht nur in Österreich zurückgewiesen, sondern auch in Slowenien und Kroatien; so lange, bis sie wieder außerhalb der EU sind. Wie häufig sind solche „Ketten-Pushbacks“?
Wir wissen nicht genau, wie viele Pushbacks passiert sind. Es werden dazu in Österreich keine Informationen bekanntgegeben. Erst im Zuge eines Gerichtsverfahrens musste die Polizei auch zu den Zahlen von Zurückweisungen Stellung nehmen. Und gemeinsam mit der Nationalratsabgeordneten Stefanie Krisper von den Neos haben wir parlamentarische Anfragen gestellt, um ebenfalls an Zahlenmaterial heranzukommen und es zu verifizieren. Daraus ergab sich, dass 2020 allein in der Steiermark mehr als 500 Personen nach Slowenien zurückgewiesen wurden, darunter mehr als 100 aus Kriegsgebieten wie Syrien, Irak, Afghanistan und Somalia.
Frontex: Anweisung zum Wegschauen
Im vergangenen Jahr wurde bestätigt, worauf antirassistische Initiativen schon seit langer Zeit hinweisen: Die europäische Grenzschutzbehörde Frontex verletzt Menschenrechte, vertuscht illegales Verhalten von nationalen Grenzschutzbehörden und hat bei Pushbacks sogar Anweisungen zum Wegschauen gegeben.
Das steht in einem vom Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung verfassten geheim gehaltenen Bericht, der im Sommer 2022 dem deutschen Magazin Spiegel, der niederländischen Plattform Lighthouse Reports und dem Portal Frag den Staat, mit Sitz in Berlin, zugespielt wurde.
Weil Frontex auch in Pushbacks in Griechenland verwickelt war, musste Frontex-Direktor Fabrice Leggeri bereits im April 2022 zurücktreten. Das für die Untersuchung solcher Menschenrechtsverletzungen zuständige Büro für Grundrechtsfragen der Frontex sei dabei bewusst umgangen worden. chrit
Ein wichtiger Teil der Arbeit von Push-Back Alarm Austria ist es also auch, öffentlich zu machen, was an europäischen Grenzen passiert?
Zu Beginn haben wir uns sehr auf dieses Phänomen der Pushbacks in Europa konzentriert. Jetzt machen wir selbst investigative Studien, begleiten Journalist:innen und stellen Kontakt zu Betroffenen her – und rücken die Rolle Österreichs ins Zentrum. Was bedeutet es, „die Balkanroute zu schließen“ und den Diskurs zu diesem Grenzregime in diese Richtung zu framen, wie einst Sebastian Kurz es getan hat? Welche transnationalen Netzwerke sind hier tätig? Und von wem werden sie unterstützt? Laut Antwort auf parlamentarische Anfragen wurden 2022 mehr als fünf Millionen Euro für den Einsatz der österreichischen Polizei in Ungarn ausgegeben. Das ist fast doppelt so viel wie Österreich gerade für die Erdbebenhilfe in der Türkei und in Syrien zur Verfügung stellt.
Sie haben gemeinsam mit der bosnischen Journalistin Nidžara Ahmetašević eine investigative Studie zum EU-Grenzregime verfasst. Mit welchem Fokus?
Wir haben uns angesehen, wie sich der Diskurs in Bosnien über Migration in Richtung Grenzmanagement verschärft hat. Während die lokale Bevölkerung anfänglich noch die Menschen auf der Flucht unterstützte, dominiert heute ein kriminalisierender Diskurs. Österreich ist in Bosnien-Herzegowina sehr präsent. Es gibt zahlreiche Initiativen und NGOs, die mit Geld aus Österreich finanziert werden, etwa das Hilfswerk International, das ebenfalls beim Migrationsmanagement mitarbeitet. Anstatt schutzsuchenden Menschen zu helfen, gehören mittlerweile Innenminister:innen und Sicherheitsfirmen zu ihren Unterstützungsempfänger:innen.
Die Konsequenzen der Auslagerung der EU-Grenzen sind u. a. besonders in Bosnien-Herzegowina spürbar?
Ja, die Auslagerung der Grenzen betrifft nicht nur die EU-Außengrenzen in Nordafrika, sondern auch den Westbalkan. In Bosnien-Herzegowina und Serbien, wo Geflüchtete aufgehalten werden, wird viel Geld in Infrastruktur, Überwachungssysteme und Camps investiert. Zum Beispiel das Camp Lipa, das von der Internationalen Organisation für Migration IOM betrieben wird, und von Österreich mit mehr als einer Million Euro unterstützt wurde.
Grenzkontrollen im Schengenraum sind laut Europarecht eigentlich nur „unter außergewöhnlichen Umständen“ zulässig. Warum ist das wieder gängige Praxis?
Der Krisenmodus wurde im Zuge der Corona-Pandemie wieder sukzessive hergestellt, auch durch wieder eingeführte Schengengrenzkontrollen.
Denken wir an die Reise von Bundeskanzler Karl Nehammer und Innenminister Stefan Karner, beide ÖVP, nach Bulgarien Ende Jänner 2023. Gemeinsam sind sie mit dem Flugzeug die EU-Außengrenze entlang geflogen, um sich selbst ein Bild vom Zaun zu machen. Was ist das, wenn nicht Stimmungsmache? Hier wird ein Bedrohungsszenario entworfen, wegen ein paar Tausend Menschen, die aus Afghanistan, Syrien, Pakistan gekommen sind und jetzt in Serbien an der Grenze sitzen.
Im Auftrag der Europäischen Links-Fraktion wurde von der Initiative Border Violence Monitoring Network das „Schwarzbuch Pushbacks“ erstellt. Die aktuelle Ausgabe enthält 1.600 Zeug:innenaussagen auf 3.000 Seiten und dokumentiert, wie EU-Staaten Migrant:innen „abwehren“. Warum ist diese umfassende Dokumentation wichtig?
Weil das Eintreten gegen Pushbacks ein Eintreten für das absolute Folterverbot ist. Denn: Menschen, die in Kooperation mit der österreichischen Polizei in Ungarn aufgegriffen werden und nach Serbien zurückgewiesen werden, sind Folter und Prügel ausgesetzt. Das wird nicht nur innerhalb der österreichischen Bevölkerung normalisiert, sondern ganz generell in der ganzen EU – und deshalb sind Initiativen wie das Schwarzbuch Pushbacks auch so wichtig, weil sie das aufzeigen. Gemeinsam mit dem Border Violence Monitoring Network, aber auch mit kleineren Organisationen wie z. B. Klikaktiv in Serbien, dokumentieren wir, weil wir die Normalisierung dieser massiven Brutalität an den Grenzen nicht hinnehmen wollen. Diese Gewalt muss aufhören.
Was können wir als Gesellschaft dem entgegenhalten?
Wichtig ist zu verstehen, dass dieses System, das Milliarden an öffentlichen Geldern verschlingt, ineffizient ist. Die Menschen werden andere Routen wählen und Wege finden, die noch gefährlicher sind. Weder die extreme Gewalt, die angewendet wird, noch das ausgeklügelte Überwachungssystem können die Menschen daran hindern, sich zu bewegen.
Wichtig ist, sich zu fragen: Wie kann man hier Interventionen setzen, wie kann man legale Wege nach Europa ermöglichen? Wie kann man überhaupt anfangen, anders zu denken – und diesen Diskurs umdrehen?
Eine Intervention dagegen ist sich zu vernetzen und die Gewalt nicht zu normalisieren, die politische Netzwerke innerhalb der EU ermöglichen. Deren Verbrechen müssen sichtbar gemacht werden. Dafür setzen wir uns ein. Und jüngste Gerichtsurteile machen Mut, weiterzumachen – wie im Falle des Pushbacks, in dessen Kontext unsere Initiative gegründet wurde, bis hin zu großen Fällen, etwa der Aufdeckung der Menschenrechtsverletzungen rund um die EU-Grenzschutzagentur Frontex 2022.
Interview: Christine Tragler
Über tödlichen Grenzschutz und die Rolle von Frontex im Mittelmeer berichteten wir im Südwind-Magazin im Sommer 2021: suedwind-magazin.at/toedlicher-grenzschutz
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